Ein Hauch von Silicon Valley in Berlin
Von Matthias Benz
Berlin ist zu einem europäischen Mekka für Internet-Startups geworden. Die Stadt zieht viele Gründer an. Im Rampenlicht steht vor allem die «kreative» Szene. Erfolgreicher agieren aber E-Commerce-Firmen, die oft auf Nachahmung beruhen.
Im angesagten Berliner Radialsystem stehen besondere Auftritte an. Für einmal erklimmen nicht avantgardistische Musiker und Tänzer die Bühne des ehemaligen Pumpwerks am Spree-Ufer, sondern es sind junge, hoffnungsvolle Internetunternehmer, die an diesem Abend das Publikum begeistern wollen. Nur vier Minuten Zeit haben sie, um den zahlreich erschienenen Zuhörern ihre Geschäftsidee nahezubringen. Vorgestellt werden etwa Smartphone-Apps, die die Reiseplanung vereinfachen, das Teilen von Gütern über soziale Netzwerke ermöglichen oder interessante Fernsehunterhaltung aufspüren helfen. «A relevant product that people love», so umreissen viele Jungunternehmer ihre Vision, natürlich auf Englisch. Das Publikum applaudiert, kommentiert die Ideen gleich über Twitter auf einer nebenstehenden Leinwand und tippt im Übrigen eifrig auf iPhones und iPads. Dem besten Auftritt an der «HY Berlin» winkt ein Preisgeld von 10 000 €.
Günstig und sexy
Solche Veranstaltungen sind in Berlin keine Seltenheit mehr. Die deutsche Hauptstadt entwickelt sich zusehends zu einem boomenden Standort für Internet-Startup-Unternehmen. Im Zentrum der Metropole, besonders rund um den Rosenthaler Platz, kann man auffällig viel Englisch hören, und in den trendigen Lokalen der Gegend lauscht man unverhofft Gesprächen, ob das eigene Startup eine Anschlussfinanzierung erhalten werde oder nicht eher die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz anstehe. Es fühlt sich ein wenig an wie im kalifornischen Silicon Valley, dem Mekka der Computer- und Internet-Szene. Findige Geister haben die Schönhauser Allee in Berlin-Mitte, wo sich viele Internetfirmen ansiedeln, prompt in «Silicon Allee» umgetauft.
Der Spitzname spiegelt den Hype, der in jüngster Zeit um die Berliner Internetfirmen entstanden ist. Zurzeit wird die Zahl der jungen Online-Unternehmen auf über 300 geschätzt. Einige von ihnen haben bereits Prominenz erlangt, sie werden in der Szene und in der Öffentlichkeit als innovative Vorzeigefirmen herumgereicht. Zu diesen Berliner Startups gehört etwa Soundcloud, ein schnell wachsendes soziales Netzwerk zum Austausch von Liedern und Tönen. Oder da ist Amen, eine soziale Plattform für Empfehlungen, in die etwa der US-Filmstar Ashton Kutcher investiert hat; oder Readmill, eine Art Online-Lesezirkel für elektronische Bücher. Auch die Politik hat das Phänomen entdeckt, der deutsche Wirtschaftsminister Philipp Rösler stattete jüngst einigen Startups einen Besuch ab.
Dass gerade das sonst eher wirtschaftsschwache Berlin eine solche Entwicklung genommen hat, dafür findet man einleuchtende Erklärungen. Zum einen ist Berlin günstig: Man kann hier im Vergleich mit anderen Grossstädten preiswert wohnen, ausgehen oder Büros anmieten. Dem kommt Bedeutung zu, weil Jungunternehmer oder Angestellte in Startups meist nicht viel verdienen und auf die Kosten achten müssen. Zum andern übt Berlin eine bisweilen fast unheimliche Anziehungskraft auf junge Menschen aus aller Welt aus. Man will hier leben, weil die einst geteilte Stadt international, dynamisch und kreativ ist, was sich auch in einer pulsierenden Kunst-, Mode- und Klubszene ausdrückt. Schliesslich findet sich in Berlin ein Pool an gut ausgebildeten Arbeitskräften und an erfahrenen Investoren. Diese Faktoren hätten dazu beigetragen, dass ein einzigartiges «Ökosystem» für Startups entstanden sei, betonen die Vertreter der hiesigen Szene.
Grosse Kapitalspritzen
Mittlerweile fliessen beträchtliche Gelder in die Berliner Internetunternehmen. Nach einer Zählung des Online-Magazins «Gründerszene» erhielten in diesem Jahr bereits neun Startups Kapital in Höhe von mindestens 10 Mio. €. Das kommt einer markanten Steigerung gegenüber dem Vorjahr gleich. Zu den grössten Kapitalspritzen gehörte eine Finanzierungsrunde für das Netzwerk Soundcloud, das von einem amerikanischen Investor geschätzte 50 Mio. € für die weitere Expansion erhielt.
Ein Blick auf die Top-Ten-Liste zeigt allerdings, dass Soundcloud das einzige der «kreativen» Unternehmen war, das in grossem Stil Geld anziehen konnte. Im Übrigen sind die Lieblingskinder der Szene auffällig abwesend. Hingegen dominiert eine andere Gruppe, die eher selten im Fokus der Öffentlichkeit steht. Grosse Finanzierungen erhielten zuletzt vor allem E-Commerce-Firmen, etwa das in Berlin beheimatete Schuh- und Modeportal Zalando, die Online-Lieferdienste Delivery Hero und Lieferando oder der Online-Marktplatz Dawanda. Es sind solche Internethändler, die in den letzten Jahren zur eigentlichen Macht in der Berliner Startup-Szene aufgestiegen sind. So beschäftigt Zalando über 1000 Mitarbeiter und dürfte in diesem Jahr erstmals mehr als 1 Mrd. € Umsatz erzielen. Auch das weniger bekannte Unternehmen Dawanda, das Internetmarktplätze für Selbstgemachtes betreibt, hat die Zahl der Mitarbeiter in kurzer Zeit auf rund 150 ausgebaut.
Kampf der Lieferportale
Zu den rasant wachsenden Berliner Online-Händlern gehört Delivery Hero, eine Plattform für Essensbestellungen. In den zentral gelegenen Büros in der Nähe der Friedrichstrasse herrscht eine junge, moderne Atmosphäre. Comic-Poster zieren die Wände, farbige Möbel sorgen für Auflockerung, im Aufenthaltsraum steht die obligate Playstation. Die weitverzweigten Räumlichkeiten werden von ausnehmend jungen Menschen bevölkert, der Kleidungsstil changiert zwischen Kapuzenpulli und Hornbrille, man unterhält sich selbstredend auf Englisch. Die gut 250 Mitarbeiter von Delivery Hero sind überwiegend zwischen 20 und 30 Jahre alt und stammen aus 40 Nationen. «Wir sehen uns nicht als deutsche Firma», sagt Co-CEO Fabian Siegel, «wir sind einfach wegen des guten Umfelds in Berlin.»
Delivery Hero steht exemplarisch für das schnelle und hochkompetitive Geschäft der Internethändler. Die Firma ist erst gut zwei Jahre alt, und Siegel räumt ein, man sei keineswegs das erste Lieferservice-Portal in Deutschland gewesen. Aber man habe als erster Anbieter den Konsumenten auf breiter Basis vermittelt – etwa durch starken Einsatz von Fernsehwerbung –, dass man Essen online bestellen könne. Jetzt gehe es vor allem darum, den Kundenstamm möglichst schnell auszubauen. Siegel vertraut darauf, dass in ein paar Jahren niemand mehr Essen per Telefon bestellen wird und dass die Kunden die Plattform nicht mehr wechseln, wenn sie einmal bei Delivery Hero sind. Die Strategie scheint bis jetzt aufzugehen. Die Umsätze haben sich von Quartal zu Quartal annähernd verdoppelt, und im kommenden Jahr will die Firma die Gewinnschwelle überschreiten.
Der Markt ist allerdings sehr umkämpft. Delivery Hero konkurriert etwa mit dem anderen grossen Berliner Online-Lieferservice, Lieferando, oder mit dem deutschen Platzhirsch Pizza.de, wobei bisweilen mit harten Bandagen gerungen wird. Welche Firma längerfristig überleben wird, steht in den Sternen. Für Siegel ist das Ziel aber klar: «Wir wollen Weltmarktführer für Online-Essensbestellungen werden.» Solche Startups würden heute von Anfang an mit globalen Ambitionen gegründet, erklärt der Manager. Nach drei Monaten sehe man, ob das Geschäftsmodell funktioniere. Gleich darauf sei Delivery Hero in weiteren Märkten wie der Schweiz tätig geworden, und heute betreibe man Plattformen in zwölf Ländern, darunter Mexiko und China. Siegel lässt keinen Zweifel daran, dass er Berlin als führenden Standort für E-Commerce-Firmen in Europa sieht. Von hier aus will man die Welt erobern.
«Kreative» contra «Copycats»
Die Entwicklung Berlins zur Metropole für Online-Händler hat viel mit drei schillernden und umstrittenen Figuren der deutschen Internet-Szene zu tun: den drei Samwer-Brüdern. «Ohne sie wäre das Berliner Ökosystem nie entstanden», sagt Siegel anerkennend. Die Unternehmer Alexander, Marc und Oliver Samwer begannen Ende der 1990er mit dem Aufbau des Online-Marktplatzes Alando, später gründeten sie den Klingelton-Anbieter Jamba, beide Firmen verkauften sie für viel Geld an Grosskonzerne. Seither mischen die Samwer-Brüder an vorderster Front im Online-Geschäft mit. Ihre Berliner Beteiligungsfirma Rocket Internet steht nicht nur hinter dem Mode-Portal Zalando, sie hat auch weitere Ableger auf verschiedenen Kontinenten gegründet und finanziert weltweit gut 50 E-Commerce-Firmen. Dank dieser Vorarbeit gebe es in Berlin heute einen Pool an gut ausgebildetem Fachpersonal, sagt Fabian Siegel.
Nicht alle in der Szene erfreuen sich aber uneingeschränkt an den Aktivitäten der Samwer-Brüder. Ihr Geschäftsmodell wird von manchen geradezu verachtet. Es beruht darauf, erfolgreiche Vorbilder (meist aus den USA) zu kopieren, diese «Klone» in anderen Märkten mit Hochdruck zum Erfolg zu treiben und dann möglichst wieder zu verkaufen. Einige Exponenten der Berliner Szene haben deshalb vor einiger Zeit ein «Anti-Copycat-Manifest» lanciert. Das Klonen sei alles andere als kreativ, kritisierten sie. Man brauche in Berlin originäre Ideen, um amerikanischen Vorbildern wie Google, Facebook oder Twitter nachzueifern. Letztlich geht es um die alte Spannung zwischen Innovation und Imitation.
In eine ähnliche Richtung argumentiert Peter Borchers, der Leiter des Berliner Hubraum. Dieser Inkubator der Deutschen Telekom unterstützt jährlich zehn bis fünfzehn Startups finanziell wie ideell. Borchers hat durchaus Verständnis für die effizienten Maschinerien der E-Commerce-Firmen, die manche als «Fabriken» bezeichnen. Doch es dürfe in Berlin nicht bei den Klonen bleiben, es brauche auch Firmen mit genuin innovativen und eigenständigen Ideen. Borchers erinnert daran, dass etwa die deutschen Kopien des Gutschein-Portals Groupon schnell wieder in der Versenkung verschwanden. Wirklich kreative Firmen seien demgegenüber interessanter, fordernder und böten längerfristig vielleicht eine solidere Basis für den Internetstandort Berlin.
Suche nach dem Exit
Dem «kreativen» Teil der Berliner Szene fehlt allerdings vor allem eines: ein grosser Exit. Der Verkauf der Firma an Aussenstehende gilt in der Internet-Szene immer noch als wichtigstes Mass für Erfolg. Bisher ist es aber noch keinem der hippen Jungunternehmer gelungen, die eigene Firma zum kommerziellen Erfolg zu führen, sie zu verkaufen und auszusteigen. Gar von einem Börsengang wie bei Facebook zu träumen, das wagt kaum jemand. Aber es gibt begründete Hoffnungen. Ein erfolgreicher Exit wird etwa dem Unternehmen Soundcloud zugetraut, das in der Szene viel Respekt geniesst und kommerziell auf einem guten Weg zu sein scheint. Er habe keinen Zweifel, dass der Erfolgsbeleg für die «Kreativen» in der Szene eintreffen werde, sagt Hubraum-Leiter Borchers.
Bis es so weit ist, wird es im Berliner Startup-Biotop wohl noch kräftig brodeln. Manche bezeichnen die hiesige Szene als wild, spontan, undefiniert – ähnlich, wie es in den 1990ern im Silicon Valley gewesen sei. Manche fürchten hingegen auch, dass in Berlin bereits eine Internetblase im Entstehen begriffen ist, dass also zu viele Investorengelder zu wenig ausgereiften Projekten nachrennen. So weit braucht man aber wohl nicht zu gehen. Die zahlreichen Jungunternehmer sind zwar, ob sie nun an der «HY Berlin» auftreten oder an einer E-Commerce-Idee arbeiten, zu einem guten Teil Idealisten, die die Welt verändern wollen. «Irgendwo hingehen, wo noch niemand gewesen ist», hört man häufig. Aber auf Nachfrage wird schnell klar, dass es sich bei den Firmengründern auch um gewiefte Geschäftsleute handelt. Alle können eine plausible Erklärung dafür liefern, wie sie mit ihrer Idee Geld verdienen wollen.
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